Texte

Spruch zu Beginn und am Ende des gemeinsamen Zazen
Wir beginnen/beenden unser gemeinsames Zazen.
Mögen seine unermesslichen Segnungen allen Lebewesen
in Nord und Süd, Ost und West zuteil werden.

 

Die vier Gelöbnisse
Die Lebewesen sind zahllos.
Ich gelobe, sie alle zu retten.
Die Täuschungen sind unerschöpflich.
Ich gelobe, sie alle zu lassen.
Die Tore der Wahrheit sind unzählig.
Ich gelobe, sie alle zu durchschreiten.
Der Weg des Wahren Selbst ist unübertrefflich.
Ich gelobe, ihn zu verwirklichen.

 

Der dreifache Segen des Zazen:
Jôriki – Kraft der Versenkung
Kenshô – Selbst-Wesensschau
Verwirklichung von Erleuchtung im täglichen Leben

 

Jôriki, Kenshô und die Verwirklichung von Erleuchtung im Alltag sind nicht nur die grundlegenden Ziele, sondern auch die segensreichen Wirkungen von beharrlichem, hingebungsvoll geübtem Zazen.

Jôriki, wörtlich die Kraft der Versenkung (jap. Samadhi), könnte man auch die  Wirkmacht der Stille nennen. Stille bedeutet in diesem Fall nicht notwendigerweise die Abwesenheit äußerer Geräusche, sondern das Still-Werden unseres geschäftigen, ruhelosen Geistes mit seinem unaufhörlichen Strom von Gedanken, Gefühlen und Sinneswahrnehmungen. Regelmäßiges Zazen reduziert Stress, fördert die körperliche und seelische Gesundheit und hilft unserem hyperaktiven, zerstreuten Geist, zur Ruhe zu kommen. Durch die konsequente Lenkung der Aufmerksamkeit nach innen werden unsere ungeordneten Seelenkräfte Schritt für Schritt geeint und die Zersplitterung unseres Bewusstseins weicht der Erfahrung der Sammlung in einem Punkt, dem sog. Samadhi. Zu Momenten von Samadhi kommt es, wenn der/die Übende so tief von der Selbst-Wahrnehmung absorbiert wird, dass er/sie sich bei voller Aufmerksamkeit selbst vergisst. Dieser besondere, jedoch ganz natürliche Zustand des menschlichen Bewusstseins könnte man mit einem tiefen Schlaf vergleichen, bei dem man gleichzeitig hellwach und vollkommen aufmerksam da ist.

Jôriki ist eine tiefe, dynamische Kraft, die durch Momente oder längere Perioden von Samadhi entsteht. Es ist mehr als nur eine gewöhnliche Konzentrationsfähigkeit. Wer Jôriki entwickelt, wird unabhängig von Stimmungsschwankungen und empfindet sich nicht mehr als Opfer äußerer Bedingungen, sondern kann seine Gefühle meistern und geistesgegenwärtig in jeglicher Situation reagieren. Jôriki verbessert den Zugang zur eigenen Kreativität und Intuition und ist sehr hilfreich, um gute Entscheidungen zu treffen. Es befähigt den Menschen, in Freiheit und Gelassenheit zu handeln und dabei stets sowohl sich selbst als auch die Umstände der konkreten Lebenssituation im Griff zu haben.

Erste positive Effekte von Jôriki treten relativ bald auf, meistens bereits nach einigen Wochen täglichen Zazens. Durch fortgesetztes Üben können wir unsere Jôriki-Kraft beinahe endlos entfalten und steigern. Wenn wir jedoch aufhören, regelmäßig zu sitzen, wird sie wieder abnehmen und schließlich verschwinden. Das fortgesetzte Kultivieren von Jôriki macht unser Leben leichter und ist ein großer Segen für uns selbst und unsere Umgebung. Aber Jôriki allein genügt nicht, um unsere existentiellen Fragen zu beantworten. Es hat nicht die Kraft, die Wurzeln unserer trügerischen Gedanken abzuschneiden und uns von der Angst vor dem Tod zu befreien. Für wirkliche Befreiung brauchen wir Kenshô, die direkte Erfahrung unseres Wahren Selbst, ein Erwachen zu einer gänzlich anderen Dimension.

Kenshô bedeutet wörtlich „Sehen des Wesentlichen“. Es ist die direkte Einsicht in unsere eigene wahre Natur, die absolute Realität von uns selbst. In der Erfahrung des Wesentlichen fällt die Illusion einer Trennung zwischen uns selbst und der Welt weg. Die absolute Einheit aller Existenz wird zur Gewissheit. Eine grenzenlose Dimension offenbart sich: Da ist kein einziges Ding und dennoch fehlt nichts! Raum und Zeit, so wie wir sie uns gewöhnlich vorstellen, gibt es nicht! Alle unsere existentiellen Fragen sind auf einmal beantwortet und augenblicklich wird klar: Menschen sterben nicht!

Die Substanz eines authentischen Kenshô ist immer dieselbe, ganz gleich, wer die Erfahrung macht, sei es Shakyamuni Buddha, Jesus Christus, einer der Zen-Patriarchen oder irgendjemand von uns. Doch gibt es enorme Unterschiede an Tiefe, Klarheit und Gründlichkeit der jeweiligen Erfahrung. Nehmen wir einmal an, dass eine blinde Person beginnt, ihre Sehkraft wiederzuerlangen. Zu Beginn erscheinen alle Dinge vor den Augen vage und unbestimmt. Mit zunehmender Sehschärfe können zunächst nahe und später auch weit entfernte Objekte unterschieden werden, bis am Ende, wenn die volle Sehkraft wiedererlangt ist, jedes einzelne Detail in völliger Klarheit und Brillanz erscheint. Bei jedem Grad der Sehschärfe sieht die Person dieselben Dinge, aber bei der Klarheit und Tiefe der Sicht kann es himmelweite Unterschiede geben.

Kenshô ist wesentlich für Zen. Ohne Kenshô gibt es kein Zen, wie Dogen Zenji sagt. Was sind die Voraussetzungen, um seine eigene wahre Natur zu sehen? Ein Mensch zu sein ist die einzige unabdingbare Notwendigkeit. Doch können folgende Bedingungen die Wahrscheinlichkeit, dass sich Kenshô ereignet, deutlich erhöhen:

  • ein tiefes Verlangen danach, seine eigene Natur zu schauen
  • die unerschütterliche Zuversicht, dass Kenshô möglich ist
  • intensive Zen-Praxis unter der Leitung eines fähigen Lehrers mit klarer Sicht
  • die Bereitschaft, alle Vorstellungen und Täuschungen zu lassen
  • das Gebet um Kenshô

Wie verhalten sich Jôriki und Kenshô zueinander? Es gibt keine lineare Beziehung zwischen Jôriki und der Erleuchtungserfahrung. Kenshô entspringt nicht automatisch der Versenkungskraft. Die Erfahrung selbst ist nicht einfach nur das Ergebnis unserer Bemühungen, sondern „ein Geschenk von der anderen Seite“ wie Dogen Zenji sagt. Dennoch ist es sehr wichtig, eifrig zu sitzen und Jôriki-Kraft anzuhäufen, da sich so die Wahrscheinlichkeit erhöht, zum Wesentlichen zu erwachen. Tägliches Zazen bewirkt eine schrittweise Verwandlung und Reifung des/der Übenden. Aber man kann die Welt des Wahren Wesens nicht durch eine kontinuierliche Annäherung erreichen. Wenn sich die Erleuchtungserfahrung ereignet, ist es vielmehr wie ein plötzlicher Sprung, die unerwartete Offenbarung einer völlig anderen Dimension.

Kenshô ist niemals das Ende des Weges, sondern immer ein Beginn. Wie oben beschrieben, können sich Klarheit und Tiefe von Erleuchtungserfahrungen enorm unterscheiden. Obwohl sich das Wesentliche niemals ändert, kann die Sicht des Wesentlichen unendlich vertieft werden. In diesem Prozess verliert Zazen niemals seine Bedeutung. Wenn jemand nach Kenshô mit dem Sitzen aufhört, können sich die positiven Wirkungen der Erfahrung nicht im täglichen Leben entfalten. Vielmehr wird die Erfahrung nach und nach verblassen, bis schließlich nicht mehr davon übrig bleibt als die schlichte Erinnerung, ein „Kenshô gehabt“ zu haben.  Gewöhnlich ereignet sich Kenshô nach mehreren Jahren ernsthafter Zen-Übung. Obwohl jedes authentische Kenshô eine total neue Sicht eröffnet, sind erste Erfahrungen selten tief und gründlich. Um dauernden Herzensfrieden und totale Befreiung zu genießen, ist es notwendig, auch nach dem ersten Kenshô kontinuierlich unter der Führung eines fähigen Lehrers weiter zu üben, die Erfahrung zu vertiefen und daran zu arbeiten, tief verwurzelte, dualistische Denkgewohnheiten abzulegen. Aber selbst wenn jemand die Einheit aller Existenz klar gesehen und dualistische Denkweisen gründlich abgelegt hat, bleibt tägliches Zazen wesentlich. Denn nur durch die fortgesetzte Kultivierung von Jôriki ist man frei genug, um im Alltag zu leben, was sich im Kenshô offenbart hat.

Verwirklichung von Erleuchtung im täglichen Leben

Die Vergegenwärtigung oder Verkörperung von Erleuchtung im täglichen Leben ist nicht nur das höchste Ziel und die kostbarste Frucht des Zen, sondern auch derjenige Aspekt des dreifachen Segens des Zazen, der am schwierigsten zu verwirklichen ist. Erste positive Wirkungen von Jôriki erscheinen bereits nach wenigen Wochen von täglichem Zazen. Kenshô geschieht für gewöhnlich nach einigen Jahren ernsthafter Übung, wogegen die Vergegenwärtigung von Erleuchtung in unserer gesamten Existenz und all unseren Alltagsaktivitäten mehr als eine Lebensspanne braucht, wie in dem Ausspruch deutlich wird: „Selbst Shakyamuni Buddha übt noch.“

Obwohl die Verwirklichung des dritten Segens des Zazen ein anspruchsvoller Prozess über eine sehr lange Zeit ist, beginnt die Entfaltung unseres Wahren Wesens bereits, wenn wir zum ersten Mal Zazen üben. Bereits vor Kenshô reduziert tägliches Zazen unter der Übung eines kompetenten Lehrers den Einfluss bedrückender Gedanken und gibt ein Gespür dafür, mehr als die bisherigen Vorstellungen zu sein. Es hilft, ruhiger zu werden und Schritt für Schritt den Krieg im eigenen Herzen zu beenden. Auf diese Weise kann bereits eine Minute Zazen einen Unterschied machen und uns selbst und die Welt zum Besseren verändern.

Dennoch muss hier betont werden, dass es nur durch eine authentische Erleuchtungserfahrung möglich ist, unsere wahre Natur direkt zu schauen, ihren Inhalt zu erfassen und zu beginnen, sie konkret im täglichen Leben zu verkörpern. In diesem Sinne ist Kenshô der Beginn, nicht die Vollendung der Verwirklichung des Wesentlichen im Alltag. Nach Kenshô sind fortgesetzte Übung und Koan-Studium unter einem kompetenten Lehrer unbedingt notwendig, um uns vollständig von der Illusion einer abgespaltenen Existenz zu befreien und das Wahre Wesen mit unseren ganzen Sein auszudrücken. In diesem Prozess müssen wir all den Glanz und die Ekstase von uns abwaschen, die Erleuchtungserfahrungen üblicherweise begleiten, und wieder eine ganz normale Person werden, die man äußerlich nicht von anderen unterscheiden kann. Doch wird dann allein schon unsere einfache Gegenwart ein Segen für andere sein und sie mit neuem Leben, Hoffnung und Zuversicht erfüllen.

Der dritte Segen des Zazen führt uns zurück zum Marktplatz, zurück zu den Problemen der Welt. Mitgefühl und soziales Engagement entstehen ganz natürlich durch die Schau unserer wahren Natur. Ein authentisches Kenshô ruft einen tiefen Wunsch nach sozialem, politischem und ökologischem Engagement hervor. Obwohl sich das Wesentliche niemals ändert, hat die direkte Erfahrung dieser absoluten Welt eine enorme Verwandlungskraft: Wenn wir unserer Augen für die Dimension des einen NICHTS öffnen und die Tatsache sehen, dass wir von Anfang an tot sind und gleichzeitig total lebendig, wenn wir erkennen, dass das ganze Universum nichts ist als unser eigener Körper, ist es solch eine Befreiung und vollkommene Freude, dass wir gar nicht anders können, als sie mit allen Wesen zu teilen. Stellen wir uns einmal vor, wir würden aus einem Alptraum von Trennung, Verlust, Gewalt, Schmerz und Tod erwachen. Unser Kopf ist bereits vollkommen wach, aber Arme und Beine sind noch in dem Traum gefangen und winden sich in Todesqualen. Würden wir nicht unsere Glieder aufwecken wollen und unser Äußerstes tun, um die Qual zu beenden?!